Start ERP Wo gehen ERP-Systeme „in die Knie“?

Wo gehen ERP-Systeme „in die Knie“?

Spezialanwendungen bleiben bei der Entwicklungsplanung von ERP-Systemen auf der Strecke. In vielen Anwenderunternehmen stellt sich die Frage, ob eine reine Finanz & Controlling-Lösung doch nicht besser als eine unspezifische ERP-Lösung auf ihre Bedürfnisse ausgerichtet ist. In welchen Bereichen stoßen ERP-Systeme an ihre Grenzen?

IT-Systeme werden, je länger sie am Markt sind, zusehends reicher an Standard-Funktionalitäten. Das gilt auch für integrierte ERP-Systeme. Die Vorteile, die sich aus dem Einsatz eines integrierten Systems ergeben, sind hinlänglich bekannt. An erster Stelle wird meist die unternehmenseinheitliche Datenbasis für Stamm- und Bewegungsdaten gennannt, die z.B. niedrige Fehlerquoten durch Mehrfachnutzung von Informationen sowie eine hohe Aktualität und Integrität der Daten. Auch können durch eine einheitliche IT-Struktur im Unternehmen Kosten minimiert werden (Administration, Lizenzsynerigen etc.).

Aber es gibt auch Nachteile: bei der Entwicklungsplanung von ERP-Systemen bleiben Spezialanwendungen häufig „auf der Strecke“: Dies erklärt sich durch den meist sehr breiten Funktionsumfang, der sich über viele Teilbereiche eines Unternehmens auffächert. Im konkreten Bedarfsfall müssen diese nachprogrammiert werden. Das ist ressourcenintensiv und nicht nachhaltig, denkt man an Software-Updates. Dafür zahlen die Anwenderunternehmen unter anderem die von vielen als unangemessen hoch empfundenen Wartungspauschalen.

Daher stellt sich in vielen Anwenderunternehmen die Frage, ob es nicht doch besser sei, eine reine Finance-Lösung mit einem ERP-System zu koppeln und so den Nutzen eines Spezialsystems zu genießen, anstatt einen Generalisten zu bemühen, der im Finanz-Bereich weniger versiert scheint.

Um sich dieser Frage zu nähern, lohnt ein genauer Blick auf die unterschiedlichen Typen von Finanz- und Controlling-Lösungen, die derzeit auf dem Markt vertreten sind. Denn dieser Markt ist vielfältig und selbst für viele „Insider“ schwer überschaubar. Rund 100 Lösungen sind derzeit auf dem deutschen Markt erhältlich. Im Wesentlichen lässt sich der Markt in folgende Gruppen unterteilen:

  • Finanzbuchhaltungs-Spezialisten
  • Anbieter integrierter ERP-Lösungen
  • Konsoliderungs-, Planungs- und Reporting-Spezialisten

Der Finanzbuchhaltungs-Spezialist hat seine funktionalen Schwerpunkte in den Bereichen Kreditoren-, Debitoren-, Hauptbuchhaltung sowie Kostenrechnung und Controlling. Darüber hinaus haben Anbieter dieser Gruppe meist Lösungen für die Anlagenbuchhaltung und das Liquiditätsmanagement im Portfolio. Die Systeme sind überwiegend branchenneutral einsetzbar. Schnittstellen zu gängigen ERP-Systemen sind meist im Standard erhältlich, kundenindividuelle Schnittstellen sind bei einem Großteil der Anbieter möglich. In der Realität kommt kaum ein Anwenderunternehmen ohne die eine oder andere Anpassung bei der Schnittstelle zum Auftragsverwaltungs- bzw. ERP-System aus.

Einige dieser Produkte sind so weit in ein oder mehrere Partner-ERP-Systeme integriert, dass sie – zumindest für den „normalen“ Anwender – nicht mehr als separates Partnerprodukt erkennbar sind. Trotzdem holt man sich bis zu einem gewissen Grad natürlich auf diesem Weg einen zweiten Software-Hersteller ins Boot.

Integrierte ERP-Software-Produkte haben ihren Ursprung häufig im Produktionsplanungs- oder Logistik-Bereich oder wurden im Laufe ihrer Existenz vom Finanzbuchhaltungssystem zum ERP-System weiterentwickelt. In beiden Fällen ist das Finanz-Modul – oder sind die Finanz-Module – Teil des ERP-Systems. In den letzten Jahren haben die Anbieter integrierter ERP-Lösungen den Funktionsumfang erheblich erweitert, so dass teils sehr ausgereifte in ERP-Systemen integrierte Finanzmodule verfügbar sind. Vor einigen Jahren noch eigneten sich die Finanz-Module der integrierten ERP-Lösungen in erster Linie für Unternehmen aus Industrie und Handel. Diese waren oft in eine ERP-Branchenlösung integriert. Heute können auch Dienstleister sehr umfassende Lösungen am Markt finden.

Bei den Konsolidierungs-, Planungs- und Reporting-Spezialisten handelt es sich um Anbieter, die spezielle Add-on-Software für die ausgewählten Teilbereiche zur Verfügung stellen. Zum Teil  sind diese Systeme auch den Business-Intelligence-Systemen zuzurechnen. Die Entwicklung zeigt, dass deutliche Überschneidungen mit den anderen Lösungsschwerpunkten im Bereich der Finanzsystemanbieter existieren und zukünftig weiter zunehmen werden. So entwickeln sich einige Reportingsysteme beispielsweise in Richtung von Planungssoftware. Auch manche BI-Systeme werden von ihren Herstellern zu Planungssystemen weiterentwickelt.

Aufgrund der heterogenen Struktur mancher Anwenderunternehmen (gerade im Konzernumfeld: z.B. aufgrund von Unternehmenszusammenschlüssen oder unterschiedlicher Wertschöpfungstiefen der Unternehmen etc.) sind solche Add-on-Programme interessant, weil sie auf verschiedene Datenbasen zugreifen und diese verarbeiten können.

Auch ein Planungsprozess kann entsprechend unterstützt werden, weil eine Verarbeitung ursprünglich in Microsoft-Excel vorliegender Planungsdaten entweder in dieser Form in das entsprechende System eingespielt werden kann oder über eine Webapplikation die Excel-Anwendung ersetzt. Weiterführende Planungsauswertungen bis zu einer Konsolidierung mit integrierter Bilanz- und Kapitalflussplanung sind ebenfalls möglich.

Mit dem Einsatz einer speziellen Reporting-Software werden die in den Unternehmen in Excel erstellten Berichte und Reports, welche bisher die Daten aus den Basissystemen (ERP, Finanzbuchhaltung, Kostenrechnung etc.) zusammengefasst und für das Management verdichtet haben, zukünftig in separaten Werkzeugen gebündelt und aufbereitet. Dieser integrierte Controllingansatz bringt eine höhere Flexibilisierung des Berichtswesens bei einer gleichzeitigen Steigerung der Datenkonsistenz mit sich.

Die Kernfunktionalitäten Finanzbuchhaltung und Controlling/Kostenrechnung werden von nahezu allen anlässlich des Marktspiegels Business Software „Finance & Controlling 2014/2015“ untersuchten Systemen vollumfänglich unterstützt. Bei Themen wie „Risikomanagement und Compliance“ trennt sich die Spreu vom Weizen.

Typische Funktionsumfänge von Finance-Lösungen

Der Funktionsumfang von Finanz-Software in Deutschland hat sich seit Ende des letzten Jahrtausends erheblich erweitert. Lag der Fokus früher auf der reinen Buchhaltung sowie dem Controlling für das Unternehmen, so sind die Anforderungen an den Funktionsumfang heutzutage erheblich gestiegen. Die Unterstützung von mehreren Kontenplänen für unterschiedliche Länder ist mittlerweile eher Standard als Differenzierungsmerkmal. Allerdings merkt man bei genauerer Betrachtung, dass einige Lösungen eher oberflächlich entsprechend weiterentwickelt wurden, ohne die Durchgängigkeit zu gewährleisten, die diese Systematik erfordert.

Eine erhöhte Nachfrage an Funktionsunterstützung gibt es insbesondere im Bereich der sogenannten Compliance. Das sind Anforderungen, die sich aufgrund von Gesetzen und Richtlinien, aber auch von freiwilligen Unternehmenskodizes an ein Berichtswesen ergeben. Darüber hinaus sind auch die Anforderungen an das interne Berichtswesen stark gestiegen: So ist die grafische Darstellung von zusammengefassten, tagesaktuellen Daten wie Umsätzen und deren Nachvollziehbarkeit ein großer Motivator für Unternehmen, ihr Finanzsystem zu erneuern.

„Wer hat wann womit den Umsatz generiert?“ Oder: „Wo wird mit welchem Produkt welcher Umsatz erzeugt?“ Diese und ähnliche Fragen stellt die Geschäftsführung bzw. das Management und kann nicht lange auf die Antwort einer IT-Abteilung warten, die den Bericht erst „bauen“ muss.

Durch das geänderte, volatilere Umfeld in dem sich die Unternehmen heute befinden, ist eine schnellere und transparentere Informationsbereitstellung überlebenswichtig (vgl. Trovarit-Studie “ERP in der Praxis“). Hier gilt es, Anforderungen an eine beschleunigte Abschlusserstellung („fast close“) und eine transparente Aufbereitung des Reportings sicher zu stellen

Die Zahlen aus operativen Systemen werden verstärkt über ein Data Warehouse (DW-) oder ein Business Intelligence (BI-) System verdichtet und das Berichtswesen über die zuletzt genannten Werkzeuge erstellt. Dies folgt der Logik, dass Informationen einerseits sehr zeitnah gefordert sind und andererseits die Berichtsempfänger neuere Technologien (z.B. Tablet-PCs, Smartphones etc.) nutzen. Somit sind die Anforderungen der Anwender in Bezug auf Mobilität und Verfügbarkeit von Daten und Berichten „ad hoc“ (also im Bedarfsfall) in den Systemen abzubilden. Das Zusammenführen verschiedener Informationen aus unterschiedlichen Systemen muss gewährleistet werden. Zur besseren Nachvollziehbarkeit der Geschäftsvorfälle und zur Beschleunigung der Geschäftsprozesse im Finanzbereich wird die Verbindung der Finanzsysteme mit operativen Vorsystemen (z.B. CRM, ERP), unterstützenden Systemen (z.B. ECM/DMS-Systemen) und nachgelagerten analytischen Systemen (Business Intelligence) immer weiter vorangetrieben. Weiterhin werden die Informationen aus Vorsystemen mit Finanzdaten verknüpft, um Zusammenhänge zu visualisieren.

Derzeit ist kein System am Markt verfügbar, welches „out of the box“ die mannigfaltigen Anforderungen der Unternehmen in Gänze befriedigen könnte.

Insofern bestehen in den Unternehmen in der Regel „Lösungslandschaften“, die aus mehreren Systemen zusammengestellt werden: Aus mehreren operativen Systemen (z.B. ERP, CRM, MES) sowie Spezialsystemen (die auch aus selbstentwickelten Werkzeugen bestehen können) für die Erfüllung von speziellen Teilaufgaben des Finanzwesens. Diese sind teilweise vernetzt, häufig werden aber noch Daten manuell übertragen oder Schnittstellen manuell beschickt, was eine Fehlerquelle und einen Hemmschuh für die Automatisierung des Prozesses darstellt (und damit im Gegensatz zur schnellen Verfügbarkeit von Informationen).

Insbesondere in den Bereichen Planung, Risk Management und Konsolidierung, sowie Data Warehousing, Personalzeiterfassung und Lohn & Gehaltsabrechnung stoßen ERP-Systeme an ihre Grenzen. Deshalb werden häufig in diesen Bereichen Speziallösungen gekapselt betrieben. Teilweise existieren standardisierte Schnittstellen zwischen den Produkten, die auch vom gleichen Hersteller kommen können. Nichtsdestoweniger handelt es sich in der Regel um separate Produkte, die nicht selten eine andere Bedieneroberfläche haben, die darunterliegenden Datenbanken differieren und die Produkte unterliegen unterschiedlichen Update-Zyklen. Somit kann meist von einem integrierten System zur Überwachung und Steuerung eines Unternehmens keine Rede mehr sein, wenn der Anspruch der IT-Unterstützung des Finanzwesens über das Rechnungswesen hinausgeht. Dies ist bei der Mehrzahl der mittelständischen Unternehmen der Fall, wobei die Tendenz in den nächsten Jahren noch steigen wird. Aus diesem Grund werden ERP-Systeme in den Finanzdisziplinen in den nächsten Jahren deutlich an Funktionsumfang gewinnen müssen, wenn sie dem Anspruch einer integrierten, unternehmenseinheitlichen IT-Lösung gerecht werden wollen.


Über die Autoren

David Weislmeier, Managing Consultant der Trovarit AG, hat Betriebswirtschaftslehre mit Schwerpunkt Rechnungswesen und Controlling an der FH München studiert. Daneben hat er einen Bachelor in International Accounting und das CINA-Zertifikat des Instituts für Internationale Rechnungslegung.

Seit mehr als 6 Jahren berät er Unternehmen bei der Auswahl und Einführung von Unternehmenssoftware.

 


Rainer Schwöbel ist Inhaber der Firma Schwöbel-Consulting und Partner im Beraternetzwerk KairosPartners on time Consulting, die den Fokus ihrer Beratung an der Schnittstelle zwischen der IT und dem operativen Bereich sieht. Er ist seit rund dreißig Jahren beruflich im Finanz- und Rechnungswesen und seit rund 20 Jahren in verschieden Führungspositionen in der Automobilindustrie tätig.