Kann ich in meinem Unternehmen in allen Produktionsstätten die gleiche MES Lösung einsetzen oder benötige jeweils eine spezifische Lösung? Diese Frage stellen sich viele Unternehmen, wenn sie Auftragsabwicklungsprozesse und Informationsverarbeitung über eine MES Lösung im Shop-floor optimieren wollen, um mehr Transparenz über Auftragsfortschritt und Anlagenverfügbarkeit zu erhalten. Transparenz über Auftragsfortschritt und Anlagenverfügbarkeit ist eine der wesentlichen Voraussetzungen für fundierte Planungs- und Steuerungsentscheidungen. Die Frage, ob eine einheitliche MES Lösung für ein Unternehmen zielführend ist oder besser standortspezifische MES Lösungen, lässt sich nicht pauschal beantworten. Viele unterschiedliche Aspekte, beginnend beim Auftragsabwicklungstyp über Fertigungsablaufart bis hin zu gesetzlichen Bestimmungen bezüglich Dokumentationspflicht (z.B. Nahrungsmittelindustrie) bestimmen die Anforderungen an MES Lösungen.
In diesem Beitrag werden zunächst die beiden Produktionstypen Stückgutfertigung und Prozessfertigung anhand ihrer produktionslogistischen Merkmale beschrieben. Aus diesen produktionslogistischen Merkmalen leiten sich die funktionalen Kernanforderungen an eine MES Lösung ab.
Bild 1: Gestaltung einer MES Lösung
© Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung IPA, Stuttgart
Analysiert man die Unternehmen mit Stückgutfertigung nach Branchen, dann dominiert hinsichtlich der Anzahl der Unternehmen der Maschinen- und Anlagenbau. Die weiteren Ausführungen zur Stückgutfertigung sind deshalb auf den Maschinen- und Anlagenbau bezogen. Als Beispiele für Prozessfertiger gelten klassischerweise die Nahrungsmittelindustrie und die Pharmaindustrie. Allerdings können sich Merkmalsausprägungen der Prozessfertigung durchaus auch in Unternehmen der Stückgutfertigung finden, wenn dort ausgeprägte Fließprozesse auf physisch verkettete Produktionsanlagen vorliegen. Als Beispiele hierfür lassen sich die Halbleiterfertigung oder die Großserienproduktion von Elektronikbaugruppen (Leiterplatten etc.) anführen.
Bild 2: Praxisbeispiele für den Einsatz einer MES Lösung
© Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung IPA, Stuttgart
Die im Maschinen- / Anlagenbau typischerweise vorzufindenden Produktkonzepte reichen von kundenspezifischen Produkten auf Basis von Produktfamilien mit einer hohen Variantenvielfalt bis hin zur Unikatfertigung. Die Produkte stellen entweder komplette Anlagen / Produktionsysteme dar oder fließen als Komponenten in solche ein. Die starke Ausrichtung der Produkte an den spezifischen Kundenanforderungen, oftmals mit einem hohen Anteil kundenauftragsspezifischen Engineerings hat für die Produktion Fertigungsaufträge mit kleinen Losgrößen und geringer Wiederholhäufigkeit zu Folge. Die Herstellung der Produkte erfolgt in der Regel auf universell einsetzbaren - das heißt nicht auf die Herstellung eines bestimmten Produktes - ausgerichtete Maschinen und Fertigungseinrichtungen. Häufig vorzufindende Fertigungsprinzipien sind deshalb hier die Werkstattfertigung mit Anordnung der Arbeitsplätze nach dem Verrichtungsprinzip (räumliche Zusammenfassung gleicher Technologien) im Bereich der mechanischen Bearbeitung, sowie das Inselprinzip - oder bei größeren Produkten die Baustellenfertigung in der Montage.
Den meist in kleinen Stückzahlen hergestellten Produkten des Maschinenbaus steht bei Prozessfertigern eine geringere Produktvielfalt gegenüber, die jedoch meist in größeren Mengen, zumindest aber mit höherer Wiederholhäufigkeit aufgelegt wird. Die Produktion erfolgt oftmals auf Anlagen, die für ein oder wenige ähnliche Produkte ausgelegt sind. Je nach Branche (z. B. Pharma oder Auto-Elektronik) sind die Anlagen von Behörden, bzw. Kunden oftmals nur für bestimmte Produkte zertifiziert. Produktverlagerungen, z. B. bei technischen Störungen oder Kapazitätsengpässen sind, auch bei Verfügbarkeit technisch vergleichbarer Anlagen, nicht zulässig und damit auch kein Planungsthema.
Die Funktionen einer MES Lösung lassen sich in drei Funktionskategorien gliedern. Abbildung 3 zeigt im linken Bildteil die Funktionskategorien mit ihren einzelnen Funktionen. Unter Datenmanagementfunktionen wird bei einer MES Lösung die Bereitstellung von Stammdaten (z.B. Artikel-, Kapazitäts- und Personalstammdaten), von Fertigungsauftragsdaten aus dem übergeordneten ERP System (Fertigungsauftragsverwaltung) sowie von Rückmeldedaten aus dem Produktionsprozess verstanden.
Bild 3: Funktionen einer MES Lösung in der Stückgut- bzw. Prozessfertigung
© Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung IPA, Stuttgart
Sämtliche Planungs- und Steuerungsfunktionen sind unter dem Überbegriff Entscheidungsfunktionen zusammengefasst. Hierzu gehören die Feinplanung und -steuerung mit deren Unterstützung auf Basis des Ressourcenbedarfs (Betriebsmittel, Personal etc.) und Ressourcenangebots (Technologie, Schichtmodell, Wartung etc.) die Abfertigung der Aufträge in der Fertigung (Maschinenzuordnung und Abarbeitungsreihenfolge) festgelegt wird.
Die Auswerte- und Dokumentationsfunktionen umfassen sämtliche Leistungsanalysen, z.B. zur Kapazitätsauslastung oder zu den Auftragsdurchlaufzeiten, Analysen für das Qualitätsmanagement mit der Überwachung der Qualitätskriterien und der Bereitstellung der für die betrachteten Produktionsbereiche festgelegten Qualitätskennzahlen, sowie das Informationsmanagement mit den Unterfunktionen Auftragspapiere und Dokumentenmanagement.
Im Maximalfall unterstützt eine MES Lösung alle drei Funktionskategorien. Viele MES Lösungen fokussieren sich jedoch auf einzelne Funktionsschwerpunkte. Hierbei orientieren sich die Anbieter einer MES Lösung oftmals an den Bedürfnissen einzelner Branchen, die sich z.B. durch unterschiedliche Fertigungsprinzipien, Marktanforderungen oder gesetzliche Regelungen teilweise erheblich unterscheiden. Im rechten Bildteil von Abbildung 3 sind die Funktionsschwerpunkte des Maschinenbaus denen der Prozessfertigung gegenübergestellt.
- Vergleich Datenmanagementfunktionen -
Aus Bild 3 geht hervor, dass vom Prinzip her beide Produktionstypen die gleichen Datenmanagementfunktionen in der MES Lösung benötigen. Unterschiede bestehen hier jedoch z. B. bezüglich der zu erfassenden, bzw. zu verwaltenden Daten, der Erfassungsart (manuell, online von Maschine), sowie der Erfassungshäufigkeit (ereignisorientiert, zyklisch).
- Vergleich Entscheidungsfunktionen -
Betrachtet man hingegen die Entscheidungsfunktionen, dann zeigt sich, dass der Funktionsblock „Feinplanung und -steuerung" bei einer MES Lösung nur für den Maschinen- / Anlagenbau von Relevanz ist. Zurückzuführen ist dies darauf, dass die Fertigung in dieser Branche, wie bereits erwähnt, häufig nach dem Prinzip der Werkstattfertigung organisiert ist. Dies bedeutet, dass eine Anordnung der Maschinen bzw. Arbeitsplätze nach dem Verrichtungsprinzip vorliegt. Aus Ressourcensicht sind darüber hinaus Anforderungen an die MES Lösung bezüglich der Reihenfolgeplanung (z.B. Rüstaufwandsminimierung, Sicherung / Optimierung der Produktqualität) und Kapazitätsauslastung zu berücksichtigen. Die Terminierung und kapazitive Einlastung dieser häufig sehr komplexen Auftragsnetze, die aufgrund von Soll- / Ist- Abweichungen bei Terminen und Ressourcenverfügbarkeit auch ständig aktualisiert werden muss, ist manuell sehr aufwendig und sollte daher durch die MES Lösung unterstützt werden. Liegen verschiedene, ggf. konkurrierende Randbedingungen vor, ist eine manuelle Planung aufgrund der Komplexität des Planungsproblems oft nicht mehr möglich. Hier ist der Einsatz IT-gestützter Planungs- und Steuerungswerkzeuge, wie sie die Feinplanungs- und Steuerungsfunktion einer MES Lösung bieten, gefordert.
Bei Unternehmen der Prozessfertigung hingegen, liegt in der Regel eine weitaus geringere Komplexität der Planung und Steuerung und daher auch geringere Anforderungen an eine MES Lösung vor. Aufgrund der häufig vorzufindenden Produktion nach dem Fließprinzip in verketteten Produktionseinrichtungen werden die Produktionsaufträge auf einer Kapazitätseinheit komplett fertig gestellt. Ein Wechsel der Kapazitätseinheiten bei jedem Arbeitsvorgang, wie wir ihn in der Werkstattfertigung vorfinden, und damit jeweils ein neues Planungsereignis, bestehen in der Prozessfertigung nicht. Da die Umplanungsnotwendigkeit z.B. aufgrund von Auftragsreihenfolgeänderungen oder zusätzliche Aufträgen gering ist, lässt sich eine solche Plantafel auch ohne Unterstützung durch eine MES Lösung händisch hinreichend aktuell halten.
Das Materialmanagement mit seinen Unterfunktionen Bestandsmanagement und Produktrückverfolgung ist für beide Produktionsprinzipien relevant. Allerdings zeigt die betriebliche Praxis, dass die Produktrückverfolgung bei Prozessfertigern meist, aufgrund der bereits erwähnten Vorschriften und Gesetze, eine sehr viel höhere Bedeutung hat als im Maschinen- / Anlagenbau. Allerdings ist auch hier, bedingt durch Forderungen des Marktes oder auch teilweise der Gesetzgeber, der Trend zu einer verstärkten Dokumentationspflicht zu erkennen (z. B. Kraftwerke, Verkehrsmittel), die gut durch eine MES Lösung unterstützt werden kann.
- Vergleich Auswerte- und Dokumentationsfunktionen -
Bei den Auswerte- und Dokumentationsfunktionen unterscheiden sich die beiden Produktionsprinzipien wiederum hinsichtlich der verwendeten Unterfunktionen und ihrer Bedeutung. Stellt beim klassischen Maschinen- / Anlagenbauunternehmen die Feinplanung und Steuerung die dominierende Funktion dar, so ist es beim Prozessfertiger die Rückmeldedatenverarbeitung und das Produktionscontrolling. Zu den von Prozessfertigern bei der Auswahl einer MES Lösung am häufigsten gestellten Frage gehört deshalb die nach den während des Produktionsprozesses direkt erfassbaren produktbezogenen Daten und deren Dokumentation, bzw. Bewertung / Interpretation (Zweck: Produktrückverfolgung, Dokumentation der Prozessparameter (Temperatur, Druck etc.), Auslösen von Sicherungsmaßnahmen (Prozessverriegelung, -abbruch etc.).
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